Fruchtbarer Boden: Wie maschinelles Lernen zur Nachhaltigkeit von Lebensmitteln beiträgt 

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02. September 2024
"Digitale Zwillinge" sind nicht nur etwas für die Industrie. Eine App könnte Landwirten schon bald helfen, durch Eingabe von Informationen wie Bodenbeschaffenheit und Wetter massgeschneiderte Empfehlungen für die Bodenbewirtschaftung zu erhalten und so Emissionen zu senken und Erträge zu steigern.
Symbolic image of soil overlaid with nutrient elements
Teilnehmende

Die Landwirtschaft ist einer der komplexesten und unberechenbarsten Wirtschaftszweige, dessen Ergebnisse in hohem Masse von Faktoren abhängen, die der Mensch nicht steuern kann. Es gibt einfach keine Möglichkeit, das Wetter zuverlässig vorherzusagen oder gar zu beeinflussen. Die Bodenqualität hängt von so vielen Faktoren ab (Niederschläge, frühere Ernten, etc.) und ist so schwierig und teuer zu messen, dass sie fast nicht geregelt werden kann. Die wichtigsten Faktoren, die Landwirte aktiv beeinflussen können, sind Fruchtfolge, Genetik, Bodenbearbeitung, Bewässerung und Düngung. 

Die Berechnung der optimalen Dünge- oder Bewässerungsstrategie für einen bestimmten Standort - unter Berücksichtigung aller Unwägbarkeiten - erfordert Berechnungen, welche die menschlichen Fähigkeiten schlichtweg übersteigen. Die Landwirtinnen können zwar auf ein umfangreiches Wissen zurückgreifen, aber für ihre Berechnungen müssen sie sich auf regionale oder nationale Durchschnittswerte stützen und können nicht alle Besonderheiten ihres konkreten Feldes berücksichtigen. Natürlich können Maschinen solche Berechnungen durchführen, aber wie können sie genügend Daten sammeln? Die Beschaffung aussagekräftiger Daten für einen bestimmten Standort mit langen Erntezyklen und ständig wechselndem Wetter könnte Tausende von Jahren dauern. Wenn man aus einem grösseren Pool von Betrieben in einer Region schöpft, verkürzt sich diese Zeitspanne, allerdings auf Kosten der Spezifität; benachbarte Betriebe können ganz andere Bedingungen aufweisen. Das ist das Problem, mit dem sich NFS Automation Forscher Matteo Turchetta befasst.  

Chart shows the various inputs that affect crop quality: crop management, genetics and environment.
Abbildung 1: Der landwirtschaftliche Ertrag wird durch Umwelt-, genetische und Bewirtschaftungsfaktoren beeinflusst. Von diesen Faktoren kann die Umwelt nicht wesentlich beeinflusst werden, und die Pflanzengenetik ist eine Entscheidung auf höchster politischer Ebene. Bleibt noch die Bewirtschaftung - Düngung, Bewässerung und Bodenbearbeitung. Hier kommt CyclesGYM ins Spiel. 

Matteo, zusammen mit seinem ETH Zürich Kollegen Luca Corinzia, sowie Scott Sussex, der bereits zu einem früheren Zeitpunkt in das Projekt involviert war, haben sich auf die Düngung konzentriert. Dieser Aspekt hat eine doppelte Bedeutung: Erstens hat die Düngung grosse Auswirkungen auf die Umwelt, was die Wasserverschmutzung und die Treibhausgasemissionen betrifft. Und zweitens kann sie für jeden Betrieb optimiert werden, da der Stickstoff im Boden recht mobil ist und sich daher schnell verändert. Theoretisch gibt es also viel Spielraum, um für jeden Standort eine optimale Lösung zu finden und so erhebliche Vorteile zu erzielen. In der Praxis ist es eine Frage von Versuch und Irrtum, das beste Verfahren für bestimmte Kulturen, Klima, Bodenbedingungen und Gelände zu ermitteln - und das dauert viel zu lange. Es sei denn, man lässt diese Versuche durch eine Simulation laufen.  

Die Lösung des digitalen Zwillings  

Verstärkendes Lernen (Reinforcement Learning, RL) - die Art des maschinellen Lernens, bei der Algorithmen auf der Grundlage von Rückmeldungen aus ihrer Umgebung trainiert werden - sollte ein gutes Werkzeug sein, um anpassungsfähige Strategien für die Landwirtschaft zu finden... wenn da nur nicht die langen Wartezeiten wären. Da effektives RL Tausende von Feedback-Zyklen erfordert, kann es nicht auf reale landwirtschaftliche Daten angewandt werden; stattdessen können Simulationen verwendet werden, um bestimmte Bedingungen zu testen und die beste Düngestrategie vorzuschlagen. 

Die derzeit verfügbaren Simulatoren beschränken die Eingaben jedoch auf einzelne Dimensionen: nur eine Kultur, ein Jahr, eine Art der Bewirtschaftung. Verschiedene Simulatoren gehen natürlich von unterschiedlichen Annahmen und Vereinfachungen aus und können für verschiedene Zwecke nützlich sein. Aber die Kluft zwischen Theorie und Praxis ist entmutigend. 

Matteo, Luca und ein grösseres Team von Forschenden haben diese Lücke mit CyclesGYM geschlossen: die erste RL-Umgebung für die Bewirtschaftung von Nutzpflanzen, die mehrere Kulturen über mehrere Jahre hinweg berücksichtigen kann. Das ist sehr wichtig, denn Ernährungssicherheit und Nachhaltigkeit sind von Natur aus langfristige Herausforderungen. Starke Düngung kann in diesem Jahr eine reiche Ernte hervorbringen, aber die Ernte des nächsten Jahres beeinträchtigen. Um ein Ökosystem zu schaffen, das nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft eine gesunde Lebensmittelversorgung gewährleisten kann, müssen wir die Fruchtfolge, die Düngung und andere Strategien über einen langen Zeitraum hinweg optimieren.

Das Back-End von CyclesGYM basiert auf einem bestehenden agronomischen Modell (Cycles), nutzt dieses aber, um einen digitalen Zwilling zu schaffen (der auf einen bestimmten Standort abgestimmt ist), der adaptive Düngestrategien erlernen kann. Im Wesentlichen nutzt der digitale Zwilling wenig Daten, um viel zu erzeugen - sogar auf der Grundlage von Bedingungen, die in der Realität nicht beobachtet wurden. Und mit Hilfe von Reinforcement Learning kann dieser erweiterte Datenpool zu umsetzbaren Empfehlungen führen, die beeindruckende Effizienzgewinne, weniger Düngerverschwendung und höhere Erträge ermöglichen.  

Der erste Praxistest der von CyclesGYM entwickelten standortspezifischen Strategien fand während der Vegetationsperiode 2023 mit Unterstützung des Schweizer Kompetenzzentrums für Agrarforschung Agroscope statt. Vier Winterweizenfelder im Kanton Waadt wurden nach den Empfehlungen des in CyclesGYM trainierten RL-Algorithmus bewirtschaftet, und die Ergebnisse lieferten wertvolles Feedback für das Modell. Während die Leistung auf zwei Feldern gut war (Kostensenkung bei gleichbleibender oder leicht steigender Produktion), ergaben die beiden anderen Felder kontraintuitive Ergebnisse. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass auf einem dieser Felder der Boden ungewöhnlich flach ist, was die Wasserrückhaltung beeinträchtigt. Das andere Feld hingegen liegt in der Nähe einer Kuhherde, die für reichlich natürlichen Dünger sorgt. Diese beiden Beispiele zeigen die Art von spezifischen Bedingungen, die bei der Verwendung eines Modells von der Stange nicht berücksichtigt werden können, die aber bei der Anpassung von CyclesGYM berücksichtigt werden können, um massgeschneiderte Strategien und bessere Ergebnisse zu erzielen. (In der Anbausaison 2024 wurden die Erkenntnisse aus dieser ersten Erfahrung in ein verbessertes System eingearbeitet, das genauere Modelle erzeugt). 

Vorteile in der realen Welt  

Matteo und Luca entwickeln jetzt eine App, die es Landwirtinnen, Beratern und Forschenden leicht macht, genaue, feldspezifische Empfehlungen zu erhalten. Mit KoraLabs (der “KI-Ernährungsberatung für Ihre Pflanzen") verfolgen die beiden mehrere Ziele: Sie hoffen, den Zugang zu diesen Technologien insbesondere für kleinere Betriebe zu verbessern, die Kosten für Düngemittel zu senken und gleichzeitig Treibhausgasemissionen und Umweltverschmutzung zu reduzieren. 

Mit der App können die Landwirte ihre spezifischen Bedingungen und aktuellen Wettermuster eingeben und erhalten dann aussagekräftige, massgeschneiderte Strategieempfehlungen. Zweifellos werden adaptive Planungsinstrumente wie diese in einem sich verändernden Klima immer wertvoller werden, da die direkten Erfahrungen der Landwirtinnen möglicherweise nicht mehr zu den neuen Bedingungen passen - dann können Daten aus anderen Regionen (und Klimazonen) die lokalen Erfahrungen ergänzen, um ein vollständigeres Bild zu erhalten. Durch das Sammeln von Nutzerfeedback wird sichergestellt, dass das Tool auf dem neuesten Stand bleibt, ständig dazu lernt und relevant bleibt - damit nicht nur die Landwirtschaft, sondern die gesamte Gesellschaft von den Vorteilen geringerer Emissionen und nachhaltigerer Lebensmittel profitieren kann.

Matteo und Luca sind sehr daran interessiert, mit weiteren Personen aus der Landwirtschaft und der Agrar- und Ernährungsbranche in Kontakt zu treten, um Ideen und Erfahrungen auszutauschen, Daten zu sammeln und vieles mehr. Wer sich für die Teilnahme an der Studie interessiert oder mehr über KoraLabs erfahren möchte, kann sich auf der Website anmelden.