“Jeder sollte über den eigenen Tellerrand hinausschauen": Eva Tardos über Synergien in der Wissenschaft

23. Juli 2024
Wir sprachen mit der Spieltheoretikerin über Fake News, egoistisches Routing und die wechselseitige Beziehung zwischen Informatik und anderen Bereichen.
Symbolic image of binary code streaming along a city road
Eva Tardos hat sich jahrzehntelang mit Routing in Online-Netzwerken befasst.

Als Dr. Eva Tardos, Professorin für Informatik an der Cornell University, die ETH besuchte, um die diesjährige John-von-Neumann-Vorlesung zu halten, führten wir ein langes Gespräch über ihren Werdegang und ihre Interessen. Wie ein roter Faden zog sich dabei die Tatsache durch, dass ihre Arbeit oft mit den Sozialwissenschaften zu tun hatte. Diese Verbindung reicht bei ihr bis in die Mittelschule zurück. 

Evas Eltern waren in den Wirtschaftswissenschaften bzw. in der Psychologie tätig, und so begann auch Eva, sich mit Politik und Arbeitsorganisation zu beschäftigen. Ihre natürliche Begabung lenkte sie jedoch eher in Richtung Mathematik und von dort aus in Richtung Informatik. Dabei zog sie vom (damals kommunistischen) Ungarn nach Deutschland und dann nach Kalifornien. Der damit verbundene Kulturschock hatte für Eva jedoch mehr mit dem akademischen Fachwechsel als mit dem Verlassen des Ostblocks zu tun.

A smiling woman wearing glasses and a collared shirt
Photograph by Dave Burbank.

"Ich habe in Mathematik promoviert. Auch meine Forschungen als Postdoc an der Universität Bonn waren sehr mathematisch", erzählt sie mir. "Die erste Stelle, die ich im Bereich Informatik hatte, war als Postdoc in Berkeley. Ich fand den Unterschied zwischen diesen beiden Communities sehr spannend. In der Mathematik-Community gab es ein gewisses Misstrauen gegenüber Veröffentlichungen in Informatik-Fachzeitschriften, weil sie nicht dem ‘korrekten’ mathematischen Stil entsprechen. Die Texte da beginnen üblicherweise mit einer Anwendung, die mathematisch nicht präzise beschrieben ist, und erst später wird das eigentliche mathematische Modell formalisiert.

 "Mathematische Veröffentlichungen hingegen beginnen immer mit dem Modell, und vielleicht wird irgendwo später erwähnt, dass es sich um etwas handelt, das mit Technologie zu tun hat. Als Mathematikerin betrachtete ich [den "Tech-first"-Stil] früher mit Argwohn. Jetzt denke ich, dass er richtig ist. Wenn wir keine realen Dinge modellieren, wen kümmert es denn dann?" 

Fragen der Informatik können in der Tat sehr real werden. Evas meistzitierter Artikel handelt von der "Maximierung der Verbreitung von Einfluss in sozialen Netzwerken" – und er erschien 2003, ein Jahr vor der Einführung von Facebook (und drei Jahre vor Twitter). Obwohl sie darauf besteht, dass dieser Artikel nicht visionär war (in der Informatik Community waren Online-Netzwerke bereits gut etabliert), hat er doch das vorweggenommen, was in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einem immer heisseren Thema geworden ist: Die grossen Probleme von heute sind die Kehrseite dessen, was Eva und ihre Co-Autoren David Kempe und Jon Kleinberg bereits vor 20 Jahren ansprachen. 

"In dem Artikel geht es nur um eine Seite der Geschichte: Was ist der richtige Algorithmus, um eine Idee zu verbreiten, um Menschen von etwas zu überzeugen? Stimmt für Biden, stimmt für Trump. Aber mit der Zunahme von Online-Netzwerken gibt es viele andere wichtige Phänomene. Ein neues Phänomen, das oft den Russen zugeschrieben wird, aber sie sind wahrscheinlich nicht die einzigen, die das tun, ist die gezielte Polarisierung. Man will zum Beispiel, dass einige Leute sehr stark für Abtreibung sind und andere sehr stark dagegen. Die sollen sich dann gegenseitig bekämpfen. Das Ziel ist also ein anderes. Es sind zum Teil die gleichen Algorithmen, die diese Ideen verbreiten, aber es sind andere Ziele. 

Ob man nun überlegt, wie man ein möglichst grosses Publikum von seinen Ideen überzeugt oder wie man sie zum Kämpfen bringt, in beiden Fällen lautet die Gegenfrage: Wie kann man das verhindern? Im Falle der Polarisierung: Wie kann man Fehlinformationen bekämpfen? 

Eva schlägt vor, die Nutzer sozialer Medien gegen Fake News zu "impfen" und zieht dabei eine Analogie zu den Covid-Impfkampagnen. "Sie mussten Prioritäten setzen. Wenn es nicht genug Impfstoff für alle gibt, muss man einen Kompromiss eingehen. Impft man die, die am anfälligsten sind? Oder diejenigen, die den Erreger am meisten verbreiten, wie medizinisches Personal und Lagerarbeiter? 

"Diejenigen, die die Krankheit am stärksten verbreiten, sind das Ziel der Netzwerkintervention. Wir versuchen, das Netz zu schützen. Um jemanden vor Fake News zu schützen, überschwemmt man ihn mit Fakten. Man will, dass die Leute sehr gut informiert sind, damit sie Fake News erkennen können. Das ist die optimale Impfung, das ist die Intervention.”

"Auch hier gilt: Es ist grossartig, wenn man jeden schützen und sicherstellen kann, dass jeder geimpft ist. Aber wenn man nur ein begrenztes Budget hat, muss man seine Botschaften gezielt einsetzen, um die grösste Wirkung zu erzielen. Wer sind die wichtigsten Personen für diese Themen?"

Eva räumt ein, dass es sich nicht um eine narrensichere Lösung handelt. "Sie geht von der ziemlich einfachen Annahme aus, dass, wenn ich Ihnen etwas schicke, das den Fake News entgegenwirkt, die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass Sie von den Fake News infiziert werden oder sie verbreiten. Ich modelliere die Psychologie auf eine sehr, sehr einfache Weise. Aber ich denke, dass es in erster Näherung vernünftig ist."

Das Spiel der fairen Zuteilung

Ein weiteres Netzwerkthema, das Evas Interesse schon früh geweckt hat und das sie nicht mehr losgelassen hat, ist die Kombination von Routing (die Steuerung von Datenflüssen im Internet) kombiniert mit Spieltheorie. 

"Um 1999 versuchte Christos Papadimitriou in Berkeley, unsere Community davon zu überzeugen, dass wir das Internet und die Netzwerke als ein Wirtschaftssystem betrachten sollten. Jeder Router optimiert eigennützig oder, wenn Sie so wollen, vereinfachend.... Nun, wenn Sie wissen wollen, wie einfache, kurzsichtige, optimierende Systeme miteinander interagieren, dann ist das etwas, womit sich die Wirtschaftswissenschaften seit Jahrhunderten beschäftigen. Ich sah also eine Verbindung. Ich hatte mich schon früh mit Routing (und anderen Dingen) beschäftigt, und nun war da dieser interessante wirtschaftliche Aspekt.”

Ein Thema, das ihr Interesse weckte, war das Braess-Paradoxon: die kontraintuitive Entdeckung, dass in einem überlasteten Verkehrsnetz die Sperrung bestimmter Strassen die Fahrzeiten verkürzen kann. Wenn jeder für sich die "beste" Strasse wählt, wird diese schnell zur schlechtesten Strasse. Umgekehrt führt die Sperrung dieser zu verlockenden Option zu kürzeren Reisezeiten für alle. (Dies wurde sogar in New York empirisch nachgewiesen.)

 

Diagram representing traffic flows
Abb. 1: Nach dem Braess'schen Paradoxon können Staus durch die Sperrung wichtiger Strassen tatsächlich entschärft werden. In dieser Abbildung können Autofahrer, die von A nach D fahren, individuell Zeit sparen, indem sie A-B-C-D fahren: Ohne Verkehr ist dies die schnellste Route. Wenn jedoch alle diese Option wählen, werden die Strecken A-B und C-D überlastet und der gesamte Verkehr wird langsamer. Wenn B-C gesperrt ist, fahren einige Autofahrer A-B-D und andere A-C-D: Der Verkehr verteilt sich gleichmässiger, und alle haben eine kürzere Fahrzeit.

Bedeutet das, dass wir, wenn wir Strassen als Analogie für den Internetverkehr nehmen, dieselben Strategien zur Verkehrssteuerung anwenden sollten, um die Überlastung der Bandbreite in den Griff zu bekommen? Die Verlegung von Kabeln mit höherer Bandbreite mag einfacher sein als der Bau neuer Autobahnen, ist aber trotzdem teuer. Die Erhebung von Gebühren für die Bandbreitennutzung ist unpraktisch, da es zu teuer ist, die Gebühren einzuziehen. Deshalb denken Informatiker seit den 1990er Jahren über alternative Möglichkeiten zur Verbesserung der Netzgeschwindigkeit nach, etwa indem bestimmte Strecken für Unternehmen reserviert werden, die für schnellere Verbindungen zwischen ihren Büros bezahlt haben.  

"Dies ist nicht so einfach zu realisieren, da die Router wissen müssten, welche Pakete Vorrang haben. Aber es ist eine Option, die schon in den frühen Tagen des Internets in Betracht gezogen wurde", erklärt Eva. "Die Frage, die wir uns gestellt haben, lautet also: Was ist die bessere Lösung bei ‘Datenstau’: etwas mehr Bandbreite und die Möglichkeit für die Router, kurzsichtig den kürzesten Weg zu wählen? Oder den Verkehr zu lenken?"

Tatsächlich stellt sich heraus, dass das Paradoxon von Braess hier nicht der Schlüssel zum Erfolg ist. "Wenn man angesichts der Menge des Datenverkehrs, den die Leute senden wollen, die Wahl hat zwischen Gebühren für Datenübertragung, ihrer Steuerung oder der Bereitstellung von etwas mehr Bandbreite, ist es am besten etwas mehr Bandbreite bereitzustellen. 

Die Bedeutung der Synergien 

Die Wirtschaftswissenschaften waren nicht nur eine Inspirationsquelle für Eva, sondern umgekehrt hatte auch ihre Arbeit Einfluss auf die Wirtschaftswissenschaften. 

"Ich bin sehr stolz darauf, dass meine Arbeit dazu beigetragen hat, die Wirtschaftswissenschaften davon zu überzeugen, sich mit Dingen zu befassen, von denen die Informatik schon immer wusste, dass sie wichtig sind", sagt sie. "Wenn wir in der Informatik ein System bewerten, fragen wir nicht: 'Ist es vollkommen effizient, ja oder nein?' Wir fragen stattdessen: 'Wie hoch ist der Effizienzverlust? Und wir akzeptieren natürlich, dass man aus Gründen der Einfachheit oder aufgrund der verfügbaren Informationen oder was auch immer nicht die beste Entscheidung treffen wird. Aber solange der Effizienzverlust nicht allzu gross ist, könnte es sich lohnen. Es gibt einen Kompromiss."

Im Gegensatz dazu sucht man in den Wirtschaftswissenschaften eher nach einer absoluten Verbesserung. "Wenn es irgendeinen Effizienzverlust gibt, hätten Wirtschaftswissenschaftlerinnen früher üblicherweise das System geändert. Aber heutzutage sprechen sie schon viel häufiger von Effizienzverlusten. Sie sagen: 'Dieses System ist gar nicht so schlecht, der Effizienzverlust beträgt nur ein paar Prozent'. Ich treffe keine Entscheidung darüber, ob es in Ordnung ist oder nicht. Ich rechne nur aus, wie hoch der Verlust ist, und überlasse es einem politischen Entscheidungsträger. Hier sind die Informationen, die Sie brauchen, um Entscheidungen zu treffen. Sie können das System noch komplizierter machen, aber der Effizienzgewinn beträgt nur 10%. Ist es das wert? Ihre Entscheidung.'"

Wenn man sich auf ein enges Forschungsfeld beschränkt, gehen wertvolle Erkenntnisse verloren. Eva sagt: "Ich denke, jeder sollte über den Tellerrand hinausschauen. Als Mensch, als Forscherin, als Lehrer. Und das Gleiche gilt für Forschende in der Industrie: Sie sollten sich um die Auswirkungen ihrer Technologie im weiteren Sinne kümmern.” 

An die Cornell-Universität, sagt Eva, kommen die Studierenden oft gerade wegen des Rufs, dass Cornell nicht nur eine sehr gute technische Hochschule, sondern eine vollwertige Universität mit einem starken geisteswissenschaftlichen Programm ist. Diese Kultur ist gut etabliert, und es wird aktiv daran gearbeitet, ein breiteres Bewusstsein bei den Informatikstudierenden zu verankern: Sei es durch die Einladung von Gästen aus anderen Disziplinen (wie kürzlich ein Arbeitsökonom, der über die Auswirkungen von KI auf die Beschäftigung referierte) oder durch ein breites Angebot an Ethikkursen. "Der Kurs, der mir in diesem Bereich am besten gefällt, verzichtet ausdrücklich auf das Wort Ethik", lächelt sie. 

"Er heisst 'Choice and Consequences in Computing'. Wir wollen den Studierenden gar nicht sagen, was ethisch ist und was nicht, sondern nur, dass sie darüber nachdenken müssen. Man trifft Entscheidungen bei dem, was man erschafft. Und das hat Konsequenzen."