«Wenn wir gemeinsam an einem Strick ziehen, erreichen wir mehr»
Wo steht die Schweiz aktuell in der Forschung im Bereich Digitalisierung, Automatisierung und Steuerung?
John Lygeros: Ich denke, die Schweiz gehört zur Weltspitze. Das gilt vor allem für den Kernbereich Automation und Steuerung, der im Zentrum des NFS Automation steht, aber auch für verwandte Bereiche wie Künstliche Intelligenz, Robotik und Optimierung sowie für Anwendungsgebiete wie Energie oder industrielle Systeme. Forschung und Entwicklung zu diesen Themen finden nicht nur in unseren erstklassigen Universitäten und Fachhochschulen statt, sondern auch in Unternehmen von Start-ups bis zu Global Playern. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass die Schweiz einen weit grösseren Fussabdruck vorzuweisen hat, als es ein so kleines Land erwarten liesse – vergleichbar mit viel grösseren Nationen. Trotzdem denke ich, dass wir noch mehr tun können...
Sie sagen, dass wir noch mehr tun können. Wo setzt der NFS Automation an, um die Position der Schweiz weiter zu verbessern?
Ein Problem ist die Fragmentierung. Die Aktivitäten sind auf viele Institutionen verteilt, darunter die Eidgenössischen Technischen Hochschulen, Universitäten, Fachhochschulen und die Industrie. Das macht die Koordination schwierig und birgt die Gefahr von Doppelspurigkeiten und wiederholten Fehlstarts. Es ist auch nicht gut für die internationale Wahrnehmung: Obwohl wir weltweit führend sind, werden wir nicht immer so wahrgenommen.
Eine Motivation für die Lancierung des NFS war deshalb, die Forschungs- und Technologietransferaktivitäten landesweit zu koordinieren, den Informationsfluss zwischen den Institutionen zu verbessern, Synergien zu nutzen und den Technologietransfer effektiver zu gestalten. Wenn wir an einem Strang ziehen, können wir mehr erreichen und werden auch national und international besser wahrgenommen.
Ein weiteres Anliegen war die Förderung des Nachwuchses, der benötigt wird, um an der Spitze der Innovation in der Automatisierung zu bleiben. Hier sind Anstrengungen in der gesamten Ausbildungskette nötig, von der Gewinnung neuer Talente für die Automation über die Ausbildung junger Ingenieure bis hin zur Weiterbildung erfahrener Praktiker, damit sie mit den neuesten Entwicklungen Schritt halten können. Unser NFS plant Aktivitäten auf all diesen Ebenen. Dabei hoffen wir auch, die Vielfalt in unserer Branche zu erhöhen. Zum Beispiel sind Frauen in der Technik weltweit unterrepräsentiert und die Automatisierungsbranche ist hier keine Ausnahme. Frauen bilden einen grossen Talentpool, von dem die Automatisierungsbranche nur profitieren und dabei gleichzeitig die bewährten Vorteile diverser Teams nutzen kann.
Zum Beispiel sind Frauen in der Technik weltweit unterrepräsentiert und die Automatisierungsbranche ist hier keine Ausnahme. Frauen bilden einen grossen Talentpool.
Können Sie einige konkrete Forschungsprojekte nennen, an denen Sie derzeit arbeiten?
Der einfachste Ausgangspunkt sind die vom NFS geförderten Anwendungsbereiche, zum Beispiel das Energiemanagement. Hier muss man auf übergeordneter Ebene langfristige Entscheidungen treffen, wie man erneuerbare Energie nutzt oder speichert, bis hin zu Entscheidungen in Sekundenbruchteilen, um die Stabilität des Stromnetzes zu gewährleisten; grob gesagt, um sicherzustellen, dass der Strom mit der richtigen Spannung zuverlässig die Steckdosen in unseren Häusern erreicht. Es ist klar, dass die Automatisierung all dieser Entscheidungen eine grosse Herausforderung ist.
Die Bewältigung dieser Herausforderungen erfordert die Entwicklung neuer Methoden. Ein grosser Teil der Forschung in meiner Gruppe (und im NFS) befasst sich mit den mathematischen Grundlagen der Automation und den Berechnungswerkzeugen, um diese in die Praxis umzusetzen. Ein Beispiel ist die datenbasierte Regelung: Die meisten der heutigen Automationsmethoden basieren auf mathematischen Modellen (den sogenannten «First-Principles-Modellen»). Diese werden verwendet, um sicherzustellen, dass die Automatisierung vorhersagbar funktioniert und um ihre Betriebsgrenzen zu ermitteln. Dank der Digitalisierung sind nun immer mehr Daten verfügbar. So können wir das modellbasierte Denken durch neue Methoden ergänzen, die sich auf die Daten stützen, um Entscheidungen zu treffen. Dies verspricht, nicht nur die Leistung bestehender Automatisierungssysteme zu verbessern, sondern auch Systeme zuverlässig zu automatisieren, die für eine First-Principles-Modellierung zu komplex sind. Diese methodische Forschung ist allgemein anwendbar. So wollen wir uns im NFS nicht nur mit Energiesystemen, sondern auch mit der zukünftigen Mobilität und der fortschrittlichen Fertigung in der «Industrie 4.0» beschäftigen.
Der NFS plant, ab etwa 2024 ein vollautomatisiertes Energienetz in einer Gemeinde oder einem größeren Quartier aufzubauen und im Feld zu testen. Wie verbessert sich dadurch das Energiemanagement im Vergleich zu dem, was wir heute haben?
Die heutigen Energienetze funktionieren recht zuverlässig. Deshalb kann man sich tatsächlich fragen ob Verbesserungen notwendig sind. Trotzdem sind wir der Meinung, dass es noch etwas mehr braucht. Ein Grund dafür sind die Veränderungen in der Energielandschaft und in besonderem Mass die zunehmende Verbreitung erneuerbarer Energiequellen. Der höhere Grad an Unsicherheit, der mit erneuerbaren Energien verbunden ist, hat zur Folge, dass Systeme, die in der Vergangenheit zuverlässig funktioniert haben, dies in Zukunft nicht unbedingt tun werden. Ein weiterer Grund sind die Forderungen nach mehr Effizienz und Kostenreduktion – darauf sind unsere auf Optimierung basierenden Automatisierungsmethoden explizit ausgelegt. Ein weiteres Thema ist die Flexibilität, damit der Betrieb neu ausgerichtet und umgestaltet werden kann, wenn sich die Bedingungen ändern. Mit fortschrittlichen Automatisierungsmethoden können wir dies mit begrenzten Investitionen in die Infrastruktur bewerkstelligen, einfach durch die Anpassung der Algorithmen – etwa wenn wir ein System neu ausrichten, weil wir zum Beispiel die Kosten gegenüber den CO2-Emissionen neu abwägen, oder wenn wir neue Dienste anbieten, die zum Beispiel die Flexibilität steuerbarer Lasten nutzen.
Mit fortschrittlichen Automatisierungsmethoden können wir den Betrieb von Netzen mit begrenzten Investitionen in die Infrastruktur flexibler umgestalten, einfach durch die Anpassung der Algorithmen.
Welche Chancen sehen Sie aus unternehmerischer Sicht durch den NFS in der Schweiz und wie wollen Sie diese fördern?
Wir planen, mit Technologie-Start-ups einen Beitrag zu leisten, die im globalen Unternehmens-«Ökosystem» in der Automation immer wichtiger werden. Denken Sie zum Beispiel an Unternehmen, die Lösungen für autonome Autos oder Drohnen umsetzen – Bereiche, in denen einige unserer Teammitglieder bereits sehr erfolgreich waren, auch als Unternehmer. Der NFS sieht Unterstützung für unsere Doktoranden und Postdocs vor, um das kommerzielle Potenzial ihrer Ideen bereits in einem frühen Forschungsstadium zu erkunden. Dies gibt ihnen die Möglichkeit, ihre unternehmerischen Fähigkeiten zu schärfen.
Im Bereich der Energieautomation planen wir die Gründung eines Start-ups, um die Ergebnisse des Demonstrationsprojekts für ein vollautomatisiertes Energienetz zu kommerzialisieren.
Die Ergebnisse des NFS haben natürlich auch über Start-ups hinaus einen kommerziellen Wert. Wie ich bereits erwähnt habe, gehören Schweizer Unternehmen zu den Weltmarktführern in der Automation. Unser Team hat bereits exzellente Beziehungen zu diesen Global Playern, auf die wir aufbauen werden, um den Technologietransfer voranzutreiben.
Digitalisierung und Automatisierung schüren auch Ängste in der Gesellschaft. Wie geht der NFS damit um?
Es ist in der Tat so, dass die Automatisierung in der öffentlichen Wahrnehmung manchmal umstritten ist, da sie Arbeitsplatzsicherheit, Datenschutz, rechtliche und sogar ethische Bedenken hervorruft. Bei den Energiemanagementsystemen, die wir bereits besprochen haben, könnten sich die Verbraucher beispielsweise Sorgen darüber machen, welche Daten der Systembetreiber über ihre Energieverbrauchsmuster sammelt, oder was passiert, wenn das automatisierte System aufgrund unerwarteter Ereignisse oder gar eines böswilligen Cyberangriffs ausfällt. Diesen Fragen wollen wir im NFS nachgehen, auch mit Partnern aus den Sozialwissenschaften. Schliesslich lautet der vollständige Name unseres NFS «Dependable Ubiquitous Automation». Unser Ziel ist es, zuverlässige, sichere Automationsmethoden zu entwickeln, die das Vertrauen der Öffentlichkeit in Automationssysteme stärken. Unsere Forschung zu Cybersicherheit und Datenschutz im Energiebereich ist ein Beispiel für unsere Bemühungen.
Jetzt liegt es an uns, das Beste daraus zu machen!
Sie haben gesagt, dass der NFS Ihr Leben und das der Menschen um Sie herum verändert hat. Inwiefern?
Sie sollten vielleicht meine Familie fragen, die schon seit geraumer Zeit unter meiner Vernarrtheit in den NFS zu leiden hat. Was mich betrifft, so hat mich der NFS über meine Komfortzonen in der Forschung und Bildung hinausgeführt. Ich stelle fest, dass es eine enorme Herausforderung ist, etwas in dieser Grössenordnung zu organisieren. Es erfordert auch ein breites Spektrum an Fähigkeiten. Zum Glück haben wir inzwischen ein grossartiges, vielfältiges Team – mit unserer Co-Direktorin Gabriela, unserer Managerin Elise und den wissenschaftlichen Koordinatoren Vahid und Frederik. Ausserdem konnten wir trotz der Schwierigkeiten der Pandemie zusammen mit unseren leitenden Forschenden ein lebendiges Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit unterschiedlichen Hintergründen und grossartigen Ideen zusammenstellen. Jetzt liegt es an uns, das Beste daraus zu machen!